Der dreigliedrige Ansatz der Sozialraumorientierung: Wie Schulen vom Umfeld profitieren
Wie kann sich eine Schule erfolgreich im Sozialraum verankern und diesen als Ressource für die eigene Entwicklung nutzen? Philipp Hackstein von der Universität Duisburg-Essen erklärt im Interview, warum die Sozialraumorientierung von Schulen entscheidend für die Zusammenarbeit mit Familien ist, wie diese gelingen kann und welche Herausforderungen dabei bestehen.
Was verstehen Sie unter dem Sozialraum einer Schule? Gibt es dafür eine klare Definition?
Der Begriff Sozialraum ist vielschichtig. Ich orientiere mich an dem dreiteiligen Verständnis meines Kollegen Matthias Forell: Erstens gibt es den physisch-materiellen Sozialraum, der die baulichen Gegebenheiten und die Angebotsstruktur im Stadtteil und in den Schulen umfasst. Zweitens die soziodemografische Dimension, die sich auf die Herkunftsmerkmale der Schülerinnen und Schüler und deren Familien bezieht. Drittens die handlungsbezogene Dimension, in der der Sozialraum als Interaktions- und Handlungsraum verstanden wird. Diese dreigliedrige Sichtweise ermöglicht es, die Ressourcen des Sozialraums zu identifizieren und für die pädagogische Arbeit in der Schule zu nutzen, z.B. durch die Kooperation mit Familien und außerschulischen Partnern oder durch die Gestaltung außerunterrichtlicher Angebote. Insbesondere in den Familiengrundschulzentren (FGZ) verstehen wir Schule als Sozialraum im Sozialraum – sowohl als Lebensort für Kinder als auch als Anlaufstelle und Akteur für Familien.
Ein Ziel von Familiengrundschulzentren ist die stärkere Orientierung der Schule in Richtung des Sozialraums. Welche unterschiedlichen Anforderungen ergeben sich daraus für Familiengrundschulzentren? Was umfasst die Sozialraumorientierung?
In FGZ geht es darum, die Zusammenarbeit zwischen Schule und Familien im Rahmen eines multiprofessionellen Schulentwicklungsprozesses systematisch zu gestalten. Die Sozialraumorientierung dient dabei als Kompass, um diese Zusammenarbeit kontextsensibel und bedarfsorientiert auszurichten. Dazu ist es wichtig, den Sozialraum zu analysieren, da die meisten Grundschulkinder Schulen in ihrem Wohnumfeld besuchen. Es geht darum, die Herausforderungen und Ressourcen des Einzugsgebietes zu verstehen und diese Informationen für die Planung, z.B. eines Jahresprogramms, zu nutzen. Ein weiterer Aspekt ist die Vernetzung mit dem sozialräumlichen Umfeld, insbesondere mit außerschulischen Partnern und der kommunalen Ebene, um eine bedarfsgerechte Unterstützung von Kindern und Familien durch soziale Organisationen und zivilgesellschaftliche Akteure zu ermöglichen. Die Angebote im Sozialraum sollten idealerweise mit den schulischen Angeboten abgestimmt sein. Zur Sozialraumorientierung gehört auch die Öffnung der Schule, so dass Familien, unabhängig davon, ob sie Kinder haben oder ob diese die Schule besuchen, Beratungs- und Freizeitangebote nutzen können. Die Schule sollte als Teil des Sozialraums wahrgenommen werden und sich für Menschen aus dem Stadtteil öffnen, z.B. durch Sportangebote in der Turnhalle am Wochenende.
Lassen Sie uns zunächst einen Blick auf die Sozialraumanalyse werfen. Was beinhaltet eine solche Analyse und welche Erkenntnisse haben Sie aus der Praxis gewonnen?
Am Anfang steht die Schaffung einer Informationsbasis, um Transparenz über die Lebenswirklichkeit der Familien zu schaffen und diese im Schulteam zu verbreiten. Häufig wohnen die Lehrkräfte nicht im Einzugsgebiet der Schule, so dass das Wissen über den Sozialraum ungleich verteilt ist. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die z.B. Hausbesuche oder Einzelfallberatungen machen, haben oft detaillierte Kenntnisse über die Lebensbedingungen der Familien, aber dieses Wissen wird im Schulalltag nicht immer geteilt. Deshalb ist es wichtig, sich im Schulteam regelmäßig mit dem Sozialraum zu beschäftigen, die Perspektiven verschiedener Professionen zusammenzuführen und datengestützt vorzugehen. Quantitative Daten wie Kommunalstatistiken oder Schulsozialindizes bieten erste Einblicke, z.B. über den Anteil von Familien mit Migrationshintergrund, Alleinerziehenden oder Transferleistungsempfängern. Noch genauer sind kleinräumige Daten, die z.B. auf der Ebene von Straßenzügen vorliegen. Diese Daten geben Hinweise auf mögliche Problemlagen im Stadtteil und können durch qualitative Methoden wie Sozialraumbeschreibungen oder -erkundungen ergänzt werden. Ein Beispiel: Eine Schulleitung nutzte Fotos von Häusern, um die Wohnsituation von Familien im Schulteam zu diskutieren. In einem anderen Fall führte ein Schulleiter neue Lehrkräfte durch das Einzugsgebiet, um ihnen ein Gefühl für den Sozialraum zu vermitteln. Weitere Methoden sind der Einsatz von Apps, Karten oder gemeinsame Erkundungen mit Eltern oder Kindern.
Bei der Sozialraumanalyse liegt das größte Potenzial darin, verschiedene Methoden zu verknüpfen. Es ist spannend, objektive Daten und Karten mit subjektivem Erfahrungswissen zu kombinieren, um die Wahrnehmungen zu bestätigen oder zu erweitern. Eine Schulleitung betonte, dass es wichtig sei, dabei auch eigene Vorstellungen – etwa Mittelschichtsdenken – zu hinterfragen und anzuerkennen, dass es verschiedene Normen gibt, die nicht nur Defizite, sondern auch Stärken aufweisen. Diese methodische Herangehensweise stärkt das Verständnis dafür, dass der konzeptionelle Weg der Schule, sich im Sozialraum zu verankern, richtig ist. Einige Schulen nutzen die Sozialraumanalyse strategisch, um ihre Situation gegenüber der kommunalen Spitze und der Politik darzustellen, da nicht immer alle auf kommunaler Ebene die spezifischen Bedingungen jeder Schule kennen.
Sie haben auch den Aspekt der Vernetzung in den Sozialraum genannt. Welche Erkenntnisse haben Sie hier aus der Praxis gewonnen?
Der Schulterschluss mit der Kommune ist sehr hilfreich. Wenn FGZ-Koordinierungen in kommunale Gremien eingebunden sind und gemeinsam mit der kommunalen Ebene ermittelt wird, welche Angebote im Sozialraum bestehen und für welche Schule relevant sind, ist das ein wichtiger Erfolgsfaktor. Schulen haben oft langjährige und vielfältige Kooperationspartner insbesondere im Ganztagsbereich, aber es fehlt oft an Transparenz darüber, welche Kooperationen bestehen. Es erfordert viel Zeit, den Überblick zu behalten und die Wirksamkeit der Kooperationen zu reflektieren. Um dies zu erleichtern, haben wir Kooperationsverzeichnisse erstellt, in denen Kontaktdaten gesammelt sind, sowie Netzwerkkarten, die auch digital erstellt werden können. Diese Strukturen helfen dabei, den Überblick zu bewahren.
Was bedeutet es darüber hinaus, wenn sich ein Familiengrundschulzentrum in den Sozialraum öffnet?
Zunächst geht es darum, die Schule als offenen Ort erlebbar zu machen, wie ich eingangs erwähnt habe. Eltern und Menschen im Stadtteil sollen verstehen, dass das, was in der Schule passiert, auch sie betrifft. Oftmals geht es darum, Menschen in die Schule einzuladen, die auf den ersten Blick nichts mit Schule zu tun haben, wie zum Beispiel Beratungsstellen, Initiativen, Therapeutinnen/Therapeuten oder zivilgesellschaftliche Akteure. Aber auch die Öffnung des Schulhofs für den Stadtteil kann eine Herausforderung sein, besonders wenn Sicherheitsbedenken bestehen, etwa durch Vorfälle oder Überbleibsel aus der Corona-Zeit, die zu geschlossenen und umzäunten Schulgeländen führen. Eine Schulleiterin hat das Problem gelöst, indem sie sich jeden Morgen vor den Zaun stellte, um die Eltern zu begrüßen und so den Kontakt aufrechtzuerhalten. Viele Schulen konzentrieren sich zunächst auf die Eltern der eigenen Schülerinnen und Schüler, da es oft Jahre dauert, einen stabilen Kontakt zu entwickeln. Dennoch kann die Schule versuchen, sich weiter für den Stadtteil zu öffnen. Feste sind dabei immer eine gute Möglichkeit.
Praktische Maßnahmen zur Verbesserung der Sichtbarkeit und Einbindung in den Sozialraum können darüber hinaus das Aufstellen eines Schaukastens an einem gut sichtbaren Ort sein, etwas vor der Schule, sowie die Präsenz der FGZ-Koordinierungen vor dem Schulgebäude und im Stadtteil, z.B. im Supermarkt, auf dem Marktplatz und im Park – dort, wo sich viele Menschen des Einzugsgebietes aufhalten. Es ist wichtig, das Angebotsprogramm der Schule bekannt zu machen, indem es an Orten wie Geschäften, Apotheken und Ärzten ausgehängt oder ausgelegt wird. Der Tag der offenen Tür sollte für den Sozialraum geöffnet werden, um das Programm der Schule zu präsentieren. Auch die aktive Teilnahme an Veranstaltungen im Stadtteil, wie z.B. Stadtteilfesten, ist eine gute Gelegenheit, die Angebote der Schule vorzustellen.
Darüber hinaus können Eltern als Multiplikatoren eingebunden werden, indem sie Personen aus ihrem Umfeld mitbringen. Die Bereitstellung von Räumlichkeiten der Schule für Institutionen und Einrichtungen aus dem Sozialraum, z.B. für Sportvereine oder Familienberatungsstellen, stärkt die Zusammenarbeit. Auch Kooperationen mit anderen Bildungseinrichtungen im Sozialraum, wie z.B. Kindertageseinrichtungen, fördern die Vernetzung und ermöglichen gemeinsame Angebote, z.B. zur Unterstützung eines erfolgreichen Übergangs der Schülerinnen und Schüler. Am Ende können so neben den „eigenen Familien“ auch die aus dem Quartier erreicht werden.
„Insbesondere in den Familiengrundschulzentren verstehen wir Schule als Sozialraum im Sozialraum – sowohl als Lebensort für Kinder als auch als Anlaufstelle und Akteur für Familien.“
Spielt die Sozialraumorientierung auch im Startchancen-Programm eine Rolle?
Im Startchancen-Programm spielt die Sozialraumorientierung eine wesentliche Rolle. Die Vereinbarung von Bund und Ländern betont das Zusammenwirken verschiedener Ebenen, Institutionen und Professionen und bezieht Akteure des Sozialraums mit ein. Im Idealfall profitieren die FGZ von Startchancen, denn viele brauchen personelle, finanzielle und konzeptionelle Ressourcen, um sich weiterzuentwickeln. Das lässt sich gut an den drei Säulen des Programms ablesen:
Bei Säule 1, der Investition in eine zeitgemäße Lernumgebung, fehlt es oft an geeigneten Räumen, um das FGZ zu gestalten. Multifunktionale Räume, die für Elterncafés oder andere Aktivitäten genutzt werden können, sind rar. Wenn Schule als Sozialraum im Sozialraum funktionieren soll, sind entsprechende Räumlichkeiten unabdingbar.
Säule 2, das Chancenbudget, ermöglicht bedarfsgerechte Lösungen in der Schulentwicklung. Gerade Schulen in benachteiligten Lagen haben oft nicht die Kapazitäten, sozialraumorientierte Konzepte wie das FGZ systematisch zu entwickeln. Hier braucht es Unterstützung, um diese Prozesse voranzutreiben.
Säule 3 betrifft die personelle Ausstattung der multiprofessionellen Teams. Eine halbe Stelle für die FGZ-Koordinierung ist gut, reicht aber oft nicht aus. Für die Umsetzung der sozialraumorientierten Arbeit werden weitere Fachkräfte benötigt. Diese Kräfte müssen sinnvoll in bestehende Strukturen eingebunden werden. Die Aufgabenteilung zwischen Schulsozialarbeit und FGZ-Koordinierung ist zum Teil unklar. Dies muss definiert und mit der Kommune abgestimmt werden. In einigen Fällen war dieser Prozess langwierig, in anderen ging es schneller. Es braucht klare Konzepte und Materialien, um die Qualität der multiprofessionellen Zusammenarbeit zu sichern.
WEITERE INFORMATIONEN
Interview: Marisa Klasen und Sebastian Schardt, Wübben Stiftung Bildung
Foto: © Wübben Stiftung Bildung/ Peter Gwiazda
Weitere Informationen zum IAQ: Institut Arbeit und Qualifikation